Fairer Handel, Fair Trade und Fairtrade?!

Fairer Handel

Das Hauptmerkmal des Fairen Handels liegt in gleichberechtigter Partnerschaft und gegenseitigem Respekt. Einer Partnerschaft zwischen Produzenten im Süden und Importeuren, Fairhandels-Geschäften, Siegelorganisationen und Verbrauchern im Norden. Fairer Handel macht den Handelsvorgang menschlicher und die Kette zwischen Produzent und Verbraucher so kurz wie möglich, so dass die Konsumenten etwas von der Kultur, der Identität und den Lebensumständen der Produzenten erfahren.

Alle Beteiligten setzen sich für die Prinzipien des fairen Handels, Transparenz bei ihrer Arbeit und Bewusstseinsbildung sowie Parteinahme ein. (Fair Trade Jahrbuch 2001-2003, 2) Hieraus wird schnell ersichtlich, dass der Faire Handel vor Allem den Menschen und seine jeweilige Realität in den Mittelpunkt stellt – im Gegensatz zu Marktpreis und Profitmarge im konventionellen Handel. ie grundlegenden Inhalte des Fairen Handels lassen sich an der Zukunfts-Vision von FLO eV ablesen:

Fair Trade is the general norm for poor and disadvantaged producers and workers,
and a reference for all trade across the world.
FLO e.V.

Davon kann abgeleitet werden, dass der Faire Handel in erster Linie gedacht ist für arme und benachteiligte Menschen wie Bauern, Kleinproduzenten, Arbeiter auf Plantagen und in Fabriken in Entwicklungsländern – mit dem Anliegen, diesen Menschen eine Möglichkeit zu geben, ihre eigene Lebenssituation zu verbessern. Hierfür wurden die nachfolgend genannten Grund-Pfeiler des Fairen Handels definiert:

Garantierter Mindestpreis

Für das jeweilige Produkt gibt es einen garantierten Mindestpreis, um Weltmarkt-Schwankungen beim Preis nicht auf die Schultern der Armen zu legen – was jedoch zumeist im konventionellen Marktgeschehen passiert. Darin wird in der Regel das Risiko nach unten durchgereicht zum schwächsten Glied in der Lieferkette, und das sind meistens die Kleinbauern und Handwerksbetriebe in den ärmeren Ländern.

Vorfinanzierung

Die Verpflichtung des Käufers, bei Bedarf eine Vorfinanzierung von bis zu 60% des Kontraktes für die Produzenten zu gewähren. Kleinbäuerliche Kooperativen verfügen oft nicht über genügend finanzielle Reserven, um bei Lieferung eines Produkts sofort bezahlen zu können. Daher haben sie eine schlechtere Ausgangslage als die Käufer, die sofort mit Bargeld, jedoch verbunden mit einem geringeren Preis, zahlen. Diesen Nachteil gleicht der Fair-Handelspartner durch die Vorfinanzierung aus.

Planungssicherheit & Verlässlichkeit

Wichtige Elemente einer Partnerschaft – dies gilt auch im Handel. Es wird erwartet, dass Handelsorganisationen langfristige Handelsbeziehungen zu den Produzentengruppen aufbauen, da Verbesserungen von Arbeits-, Lebensbedingungen auf Langfristigkeit angewiesen sind. Es exisitiert ein gesicherter Kauf der Produkte sowie andere Maßnahmen, z.B. bei der Unterstützung zur Umstellung auf biologischen-organischen Landbau.

Quelle

PAULSEN, OLAF, 2014: Der Faire Handel und Agrar-Ethik – auch friedenspolitisch ein wichtiger Schritt. In: MEIER, UWE (Hrsg.): Agarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia-Verlag, Clenze.
Weiterführende Informationen zum Fairen Handel

Wege zu einer Agrarethik

Beiträge von Dr. Uwe Meier

Dr. Uwe Meier, studierte Gartenbau mit den Schwerpunkten Ökonomie und Phytomedizin. Er arbeitete 34 Jahre in der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Braunschweig (seit 2008 Julius Kühn-Institut) im Verantwortungsbereich der Prüfung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln.

Seit 1996 entwickelt Meier Umwelt- und Sozialstandards für die internationale Landwirtschaft. Heute berät er internationale Organisationen, Unternehmen und Verbände in der Standardentwicklung. Meier ist Mitglied im Konvent der Ev. Akademie Abt Jerusalem der Landeskirche Braunschweig. Er war viele Jahre ständiges Mitglied im International Standards Committee des Sustainable Agriculture Network, San Josè / Costa Rica und der Rainforest Alliance/ New York.

Gladys, so nenne ich sie hier, ist Blumenarbeiterin auf einer Rosenfarm in Kenia. Die Farm exportiert Rosen nach Deutschland. Der Unternehmer und Rosenproduzent hat sich vor fünf Jahren entschieden, seine Rosen umweltfreundlich und sozialverträglich, transparent und nachprüfbar zu produzieren – und das freiwillig.

Gladys  hat einen Arbeitsvertrag, geregelte Arbeitszeit mit Überstundenregelung und bekommt eine Entlohnung über dem Mindestlohn. In ihrer Freizeit genießt Gladys ihr Leben. Sie hat Zeit, sich verlässlich um ihre Kinder zu kümmern, die zur Schule gehen,  und sie bildet sich fort, denn sie spricht Kisuaheli und möchte noch besser Englisch sprechen und schreiben.

Gladys macht derzeit eine betriebsinterne Fortbildung. Sie ist vom Unternehmen gebeten worden im Kompostmanagement zu arbeiten. Alle Pflanzenabfälle sind wertvolle Rohstoffe, hat sie gelernt, und die Kompostwürmer verarbeiten die Pflanzenreste der Farm in wenigen Monaten zu wertvollem Kompost. Die Rosen, so Gladys, gedeihen mit Kompost besser, brauchen weniger Dünger und sind überhaupt gesünder und kräftiger.

An die Arbeitsbedingungen in anderen Blumenfarmen kann sich Gladys noch gut erinnern: Dort gab es keine oder nur sehr kurze Arbeitsverträge, ständig unangekündigte Wochenendarbeit, jeden Tag Spritzmittel im Gewächshaus, und es gab kaum medizinische Versorgung. Gladys ist froh, dass sie seit einigen Jahren unter besseren Bedingungen arbeitet, den internationalen Umwelt- und Sozialstandards von Fair Trade. Die Regeln des Siegels legen genau fest, wie sich ein freiwillig teilnehmendes Blumenunternehmen den Mitarbeitern und der Umwelt gegenüber zu verhalten hat.

Der Rosenproduzent meint, dass sich die Kooperation mit TransFair bisher gelohnt habe, weil große Handelshäuser in Deutschland, wie z. B. REWE und EDEKA, verlässliche Kunden sind. Diese Handelsunternehmen legen nicht nur Wert auf eine hohe Blumenqualität, sondern auch auf eine hohe Arbeits- und Umweltqualität in der Produktion und auch auf gesiegelte Produkte. Dafür zahlen sie auch einen höheren Preis. Meine Arbeiter, so der Blumenunternehmer, sind stolz darauf, hier arbeiten zu dürfen. Sie wollen, dass es unserem Unternehmen gut geht. Besonders anstrengende Arbeitsphasen, wie zum Muttertag oder Valentinstag, ertragen sie leichter, sie werden seltener krank. Das Image meines Rosenunternehmens ist bei meinen Kunden, wie REWE und EDEKA,  gut. Das gibt Planungssicherheit für uns.

Ein langer Weg –

Umwelt und Menschenrechtsstandards in der Agrarwirtschaft

Oktober 1991 – ich saß auf dem Podium in einem Saal in Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens. Hunderte von Blumenarbeiterinnen aus den Blumenbetrieben der Sabana de Bogota hatten das „Primero foro de las mujeres del flores“ (Erstes Forum der Blumenarbeiterinnen) organisiert und klagten die Blumenunternehmer an,  die Menschenrechte zu verletzen sowie die Umwelt und ihre Gesundheit, insbesondere mit Pflanzenschutzmitteln, zu zerstören. Ich war seinerzeit auf das Podium gebeten worden, weil ich mich in Kolumbien aufhielt, um ein Gutachten über die Bedingungen in der Blumenindustrie zu erstellen. Die Stimmung war hitzig bis aggressiv, auch weil viele Arbeiterinnen entlassen und in den Monaten zuvor Gewerkschafter erschossen worden waren.

Die Blumenunternehmer bestritten die Vorwürfe und warfen der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN vor, eine Kampagne gegen kolumbianische Blumenexporte von Europa aus zu steuern. Mit dem Kampagnenvorwurf hatten die Blumenunternehmer Recht. Diese richtete sich jedoch nicht gegen die Blumenexporte,  sondern gegen die Arbeitsbedingungen in den Blumenfarmen. Die Blumenkampage besteht bis heute und sie entfaltete in all den Jahren eine noch immer weit unterschätzte Wirkung – nicht nur in Kolumbien,  sondern in vielen Ländern, in denen Schnittblumen produziert werden, auch in Kenia.

Die Kampagne ist erfolgreich. Sie macht auf die Produktionsbedingungen in der weltweiten Blumenproduktion aufmerksam. Als Instrument für bessere Bedingungen nutzt sie von Beginn an Mindest-Produktionsstandards, die freiwillig vom Unternehmen einzuhalten sind. Die Kampagne  hat in mühseligen Diskussionsprozessen Prüfkriterien entwickelt, die heute von anderen Nichtregierungsorganisationen (NRO) [1] wie Trans Fair oder Rainforest Alliance weiter entwickelt werden – inzwischen nicht nur für Blumen, sondern für  viele Agrarprodukte, wie Kaffee, Baumwolle, Kakao, Palmöl, tropische Früchte usw.

Diese  NGOs mit ihren angeschlossenen standardsetzenden Organisationen verlangen nichts Außergewöhnliches. Sie wollen, dass die einheimischen Gesetze und internationalen Regeln eingehalten werden. Grundlage der Regeln ist die Agenda 21, die fast alle Staaten auf der Welt-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992  unterschrieben haben. Die Legitimation zur Einmischung in internationale Umwelt- und Menschenrechtsdiskussionen beziehen die NGOs aus dieser Agenda 21. Sie beschreibt unter den Punkten 27.1 bis 27.13 die Mitverantwortung, die zivilgesellschaftlichen Organisationen zukommt, und unter Kapitel 3 die Untrennbarkeit von nachhaltiger sozialer und ökologischer Entwicklung.

Die umweltorientierte landwirtschaftliche Produktion wird in international anerkannten Definitionen als eine „Integrierte Produktion“ beschrieben. Bei ihr müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, um so umweltschonend wie möglich die Feldfrüchte anzubauen, wobei ein Verlust des Ertrages zu dulden ist, wenn er sich in ökonomischen Grenzen hält. Diese integrierte Produktion ist mit dem „Integrierten Pflanzenschutz“ in normativen Regelwerken von vielen Staaten als Ziel verankert. Doch umgesetzt wurde wenig. Erst durch die Standardentwicklung der NGOs mit konkret definierten Umwelt- und Sozialkriterien wurde der notwendige Druck aufgebaut, um zumindest im Ansatz Änderungen zu bewirken.

Die BSE-Krise mit ihren Umsatzeinbrüchen im Fleischhandel war Anlass für den europäischen Lebensmittelhandel, verstärkt auf den Produktionsprozess in der Landwirtschaft zu achten und Einfluss auf ihn zu nehmen. Mit GLOBAL GAP (GAP = Good Agricultural Practice) schuf der europäische Handel ein internationales Standard- und Zertifizierungssystem für Lebensmittel. Dabei konnte der Lebensmittelhandel auf die Erfahrungen der NGOs und insbesondere auch des Blumenhandels aufbauen.

Die entscheidenden Anstöße zur Entwicklung von Umwelt- und Sozialstandards für die integrierte Agrarwirtschaft gingen also zu Beginn der 90er Jahre von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und ihren Standardinitiativen aus. Lebensmittelskandale, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und skandalöse Tierhaltungsformen waren und sind Anlass für Handel und Gewerbe, nach Möglichkeiten zu suchen, mit denen sich im globalen Handelsverkehr auf die Nachhaltigkeit der Produktion Einfluss nehmen lässt. Die Zertifizierung mit Standardsetzung bot sich ihnen an, und nichts lag näher als mit den bereits erfahrenen NGOs zu kooperieren. Dieses Vorgehen entspricht nicht nur der Agenda 21, es ist bisher grundsätzlich auch erfolgreich und inzwischen weltweit etabliert.

Produktionsstandards – freiwillig oder durch gesetzliche Vorgaben

Der globalisierte Handel, verbunden mit der Internationalisierung der Wertschöpfungsketten, führt dazu, dass sich international agierende Unternehmen der Steuerung durch Staaten immer mehr entziehen können. Dadurch wird der Handlungsspielraum von Nationalstaaten eingeengt. Internationale Konventionen und Vereinbarungen sind häufig über Willenserklärungen oder gar Leitbilder nicht hinausgekommen und entfalten nicht  die notwendige Wirkung zu mehr nachhaltigem Wirtschaften entsprechend der Definition des Brundtland-Reports [2],[3]. Die knappen Kassen der öffentlichen Hand und die Interessen der Regierungen, ihre Wirtschaft zu schützen, bedingen oft Kontrolldefizite. Unter diesen Voraussetzungen bietet sich als Weg die standardbasierte Zertifizierung durch NGOs in Kooperationen mit der Wirtschaft an.

Eng verbunden mit dem schwindenden Einfluss der Staaten auf die Produktionsbedingungen ist der wachsende Einfluss der NGOs mit ihren Zertifizierungsorganisationen. Sie sind als zivilgesellschaftliche Akteure global organisiert und nehmen Einfluss auf die Politikgestaltung und das Wirtschaftsgeschehen.  Das führt so weit, dass NGOs inzwischen ordnungspolitische Funktionen übernommen haben. Ohne politisches Mandat und ohne direkte demokratische Legitimation definieren sie inzwischen mit zunehmendem Erfolg, was Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda ist, was unter „Integriertem Pflanzenbau“, „Gute(r) Landwirtschaftliche(r) Praxis“ (GLP), „Nachhaltige(r) Forstwirtschaft“ und unter nachhaltigen sozialen Arbeitsbedingungen zu verstehen ist.

Standardinitiativen in der Agrarwirtschaft können heute also gemeinsam mit den Produzenten und dem Handel einen Beitrag leisten, die soziale und ökologische Situation in der Agrarwirtschaft auf der Grundlage einer Agrarethik grenzüberschreitend zu verbessern. Sie können und sollen staatliche normative Regelungen nicht ersetzen; sie können jedoch helfen, Grenzen auf der Grundlage von Standards und Indikatoren zu definieren. Sie können  Defizite lokalisieren und über Verhaltensregeln einzuhaltende und kontrollierbare Vorgaben machen.

Die ständige Weiterentwicklung von Umwelt- und Sozialstandards in der internationalen Agrarwirtschaft und deren Umsetzung in verbindliches, praktisches Handeln mit Hilfe von Standardinitiativen bedürfen umfassender und oft schwieriger Kommunikationsprozesse zwischen allen Beteiligten, also den Produzenten, dem Handel und den Konsumenten. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass dieser Weg im Rahmen der gegebenen marktwirtschaftlichen Bedingungen zielführend beschritten werden kann.

Auch staatliche Organisationen greifen inzwischen auf Standards und deren Einhaltung durch Zertifizierungsprozesse zurück. Deutschland nutzte deren langjährige Erfahrungen in der Agrar-Standardsetzung und die Erfahrungen der Industrie bei der Zertifizierung, um Standards bei den Biotreibstoffen durchzusetzen. So sind 2009 Nachhaltigkeitsverordnungen für Biokraftstoffe[4] und Biomasse[5] erlassen worden. Die Stoffe dürfen nicht aus Pflanzen hergestellt werden, die auf Flächen mit hoher biologischer Vielfalt und mit hoher Kohlenstoffbindung angebaut wurden. Im Rahmen eines standardbasierten Zertifizierungsverfahrens wird überprüft, ob die Regeln für das freiwillige System eingehalten werden.

Die Kritik an den o.g. EU-Richtlinien und deren nationale Umsetzung ist vielfältig. Positiv wird jedoch hervorgehoben, dass mit dem privat organisierten Zertifizierungssystem der Staat erstmalig normative Regeln für die landwirtschaftliche Produktion setzt, die weltweit gültig sind, sofern die Produkte in die EU eingeführt oder in der EU erzeugt werden. So umstritten diese EU-Richtlinie zu Recht ist, unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen könnten zukünftig grundlegende globale Nachhaltigkeitsprobleme in der Agrarwirtschaft einer Lösung näher gebracht werden. Unabdingbar sind jedoch enge Kooperationen zwischen den Akteuren.

Unter den derzeitigen Bedingungen ist es noch zu früh zu beurteilen, ob es sinnvoll ist, die ökologische und soziale Standardsetzung und die Zertifizierung in gesetzliche, grenzüberschreitende Normen zu fassen. Die Regeln der WTO und die derzeitige marktradikale ökonomische Weltordnung werden dieses kaum zulassen.

Hilfreich wären jedoch Gesetze als „institutionelle Rückenstützen“ (Ulrich und Busch, 2012), um in der internationalen Agrarwirtschaft Standardsysteme mit Zertifizierung im Sinne einer integrierten Produktion verstärkt einzuführen. Zu den Rückenstützen könnten deutlich bessere Verbraucherinformationen mit Hinweisen zu den Produktionsbedingungen (Heißenhuber und Leitner, 2012) zählen und Schulunterricht über gesunde Ernährung (Gottwald e al., 2010) sowie die Bereitstellung langfristiger Forschungsmittel für den biologisch-organischen Anbau. Eine transdisziplinäre Agrarforschung zur Agrarethik sollte etabliert werden (Meier, 2012), Forschungen zur Glaubwürdigkeit der Zertifizierungen und eine verpflichtende enge Zusammenarbeit der Forschungsinstitutionen der Behörden mit den Standardinitiativen der NGOs.

Der Diskurs auf agrarethischer Grundlage und die Umsetzung in der Praxis mit allen Akteuren ist keine Illusion, sondern Realität. Standardinitiativen gehen seit einigen Jahren weltweit Partnerschaften mit Agrarunternehmen jeder Größe ein. Sie beraten Wirtschaftsverbände und Regierungen, und sie nehmen Einfluss auf Unternehmen und agrarpolitische Entwicklungen durch Kommunikation und Normsetzung nach internationalem Diskurs. Dabei stützen sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse, internationale Normen und kulturorientiertes Erfahrungswissen.

Standardinitiativen

msc

Als Standardinitiativen werden hier standardsetzende privatwirtschaftliche Organisationen verstanden, die Umwelt- und Sozialstandards in der Agrarwirtschaft organisieren. Die Standardinitiativen haben das Ziel, mit agrarwirtschaftlichen Unternehmen und dem Handel zu kooperieren, um über Standards Einfluss auf das Umwelt- und/oder Sozialverhalten in der Produktion zu nehmen. Für den Lebensmittelhandel wichtige Standardinitiativen, die mit NGOs kooperieren, werden hier kurz vorgestellt:

Der „Marine Stewardship Council“ (MSC) ist eine unabhängige Organisation, die ihr Umweltsiegel an nachhaltig arbeitende Fischereiunternehmen vergibt, um einen Beitrag zur Sicherung von Fisch und Meeresfrüchten für zukünftige Generationen zu leisten. Mit dem Programm, das auf einer kriterienbasierten Zertifizierung beruht, soll das Problem der globalen Überfischung vermindert, der Erhalt der marinen Ökosysteme gefördert und es sollen Arbeitsplätze in aller Welt gesichert werden (www.msc.org, 28.10.2012).

MSC wurde 1997 von der Umweltorganisation WWF und dem Lebensmittelkonzern Unilever gegründet, ist jedoch seit 1999 unabhängig. An den Umweltstandards und Kriterien haben in einem Multi-Stakeholderprozess Wissenschaftler, Fischereiexperten aus Fischereiindustrie, Lebensmittelunternehmen und Umweltorganisationen mitgewirkt.

fsc

Der „Forest Stewardship Council“ (FSC) fördert nach eigenem Anspruch eine umweltfreundliche, sozialorientierte und ökonomisch tragfähige Bewirtschaftung von Wäldern. Die unabhängige, gemeinnützige Nichtregierungsorganisation wurde 1993 als ein Ergebnis der Konferenz „Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro gegründet. FSC vergibt nach einem erfolgreichen, standardbasiertem Audit ein Siegel. Dieses weist darauf hin, dass das Produkt aus verantwortungsvoll betriebener Forstwirtschaft stammt. Produkte mit FSC-Siegel werden über die gesamte Handelskette zertifiziert. Für diesen Prozess wurden zehn Prinzipien und 56 Indikatoren entwickelt, auf denen die weltweit gültigen FSC-Standards zur nachhaltigen und sozialen Forst-(Wald)bewirtschaftung basieren (www.fsc-deutschland.de, 29.10.2012).

rainforest

Die Rainforest Alliance (RA) ist eine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York, die sich für den Schutz der Regenwälder engagiert. Unter Federführung der RA entwickelt das „Sustainable Agriculture Network“ (SAN)  Umwelt- und Sozialstandards für die Produktion zahlreicher landwirtschaftlicher Produkte. Ursprünglich fast ausschließlich auf Umweltstandards fokussiert, wird der Schwerpunkt zunehmend auch auf die Sozialstandards gelegt.

Das SAN mit Sitz in San Jose/Costa Rica ist eine Kooperationsgemeinschaft von Umweltorganisationen fast aller Staaten auf dem amerikanischen Kontinent (sanstandards.org/sitio, 22.10.2012). Aufgrund des kooperativen Leitbildes arbeitet SAN und RA mit allen Institutionen und Unternehmen zusammen, die den Zielen förderlich sind. Das heißt, auch mit der verarbeitenden Industrie und dem Handel. Diese Kooperationen werden häufig kritisiert, weil mangelnde Unabhängigkeit und Profitorientierung unterstellt wird. Dieser Kritik wird mit dem Argument begegnet, dass nur eine enge Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisation, dem Handel und den Produzenten erfolgreich in der praktischen Umsetzung von Umweltzielen und sozialen Zielen sein kann (www.rainforest-alliance.org, 22.10.2012).

Die Standards des SAN entsprechen dem „Integrated Crop Management“, das in seinem Anspruch über die  „Good Agricultural Practice“ (GAP) weit hinausgeht. Die Standards werden von einem 12-köpfigen „International Standards Committee“ (ISC) in Kooperation mit kompetenten Institutionen entwickelt und vor ihrer Verabschiedung im „SAN-Board of Directors“ über das Internet weltweit zur Diskussion gestellt. Die Standards werden alle 3-5 Jahre neu diskutiert und der wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Entwicklung angepasst.

fairtrade

Das Siegel von Transfair, eines von mehreren Fairtrade-Initiativen. Grundlegendes Ziel der Fair Trade-Initiativen ist es, den Produzenten in den sog. Entwicklungsländern eine Entwicklungschance über einen fairen Preis zu garantieren und sie weitgehend vor den Preisschwankungen des Weltmarktes zu schützen. Dafür arbeiten Handelsorganisationen und Netzwerke des Fairen Handels weltweit zusammen. Verbindliche und zuverlässige Handelsbeziehungen mit Produzentengruppen und Unternehmen im Süden und dem Handel sind Grundlage für die Partnerschaften. Die wichtigsten Initiativen im fairen Handel sind die beiden globalen Netzwerke „Fairtrade Labelling Organisation International“ (FLO) und die „World Fair Trade Organisation“ (WFTO). Die beiden Fair Trade Initiativen haben sowohl Umweltstandards auf der Grundlage des integrierten Anbaus entwickelt als auch Sozialstandards, die sich an den ILO-Normen orientieren. Ein zunehmend wichtiges Ziel ist die Förderung des biologisch-organischen Anbaus von Kulturpflanzen (www.transfair.org)

Kritik an Zertifizierungssystemen

Standardinitiativen und die mit ihnen kooperierenden Zertifizierungsorganisationen vermitteln den Anspruch hoher Integrität und Glaubwürdigkeit. Dieser Anspruch bedarf einer Überprüfung, die nur allzu selten durchgeführt wird. Die Glaubwürdigkeit sollte schon deshalb hinterfragt werden, weil die Zertifizierungsorganisationen untereinander im Wettbewerb stehen.

Dieser Wettbewerb findet nicht unter öko-sozialen Prämissen statt, also dem Gedanken, welches System die glaubwürdigsten und sinnvollsten Kriterien hat, die zu mehr ökologischer und sozialer Verantwortung führen. Der Erfolgsmaßstab der Zertifizierungsorganisationen ist die zertifizierte Fläche, auf die gerne mit Stolz verwiesen wird. Doch dieser Erfolgsmaßstab zur Bewertung eines Zertifizierungssystems ist falsch!

Dieser Maßstab führt zu einer Entwicklung, die als „Race to the bottom“ bezeichnet wird – also einem Wettlauf  hin zu schwächeren Standards,  weil die Standardsysteme mit geringeren Standardanforderungen und Zertifizierungspreisen von der Wirtschaft bevorzugt werden.

Entscheidender Erfolgsmaßstab muss zunächst die Erfüllung von ökologischen und sozialen Zielen in den Betrieben, also die tatsächlich realisierte Umwelt- und Sozialwirkung in den Agrarunternehmen sein.

Bei Unternehmensprüfungen kann sich zwischen der Zertifizierungsorganisation oder den  Auditoren und dem zu zertifizierenden Unternehmen ein Abhängigkeitsverhältnis entwickeln, von dem beide Seiten profitieren. Das Unternehmen hat das Ziel, die Unternehmensprüfung erfolgreich zu bestehen, und die Zertifizierungsorganisation möchte zwar ein ordnungsgemäßes Audit durchführen,  jedoch auch den Folgeauftrag haben, den es im Grunde nur bei „Wohlverhalten“ bekommt. Hinzu kommt, dass zu viele negative Ergebnisse bei Audits das Geschäft des Zertifizierungsunternehmens negativ belasten. Diesem risikobehafteten Thema muss verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil Glaubwürdigkeit für die Zertifizierung existenziell ist,  zumal wenn Zertifizierungen zukünftig verstärkt politisch gewollt sind und politisch instrumentalisiert werden.

Kritisiert werden die internationalen Agrar-Zertifizierungen auch von sog. Entwicklungsländern. Sie beschweren sich bei der WTO über erschwerte Marktzugänge, wenn nur Güter aus Produktionsbedingungen exportiert werden dürfen, die nach Umwelt- und Sozialkriterien zertifiziert wurden. Damit wäre der Kostenvorteil der Güter nicht mehr gegeben und diese wären auf dem Weltmarkt schwerer absetzbar. Die WTO fühlt sich jedoch nicht zuständig, weil  die Zertifizierung freiwillig sei und sie keinen Einfluss auf die Verträge der Handelspartner habe.

Die Zertifizierungssysteme nehmen Einfluss auf Produktionssysteme- und abläufe und geben vor, einer nachhaltigen Produktionsweise dienlich zu sein. Unternehmen in der Produktionskette verlassen sich auf die Zertifizierung. Es ist unverständlich, wenn umwelt- und sozialrelevante Instrumente entwickelt, von der Praxis angewandt und politisch genutzt werden, jedoch eine wissenschaftlich belastbare Qualitätskontrolle im Feld weitgehend fehlt. Es ist erstaunlich, dass Untersuchungen über die Qualität des Audits und der Zertifizierung im internationalen Zertifizierungsmarkt weitgehend fehlen[7] , greifen diese Systeme doch in den Markt ein, sind umwelt-, sozial- und kostenrelevant und normsetzend.

Die Agenda 21 im agrarethischen Kontext

Ethik befasst sich mit der Moral. Sie fragt nach der Begründung, warum etwas moralisch oder unmoralisch ist. Damit lädt sie zur Reflexion und zum Diskurs ein. Die uneingeschränkte Reflexion im Diskurs kennzeichnet den Übergang von einer moralisierenden Fremdbestimmung zu einer Selbstbestimmung und möglichen Selbstbindung aus eigener Einsicht heraus. Diese Haltung stärkt die Motivation, sich zum Beispiel für nachhaltiges Wirtschaften verantwortlich zu fühlen, und führt aus innerem Antrieb dazu, verantwortungsvoll zu handeln.

Es zeigt sich, dass es zur Konfliktlösung zunächst einer begründungsstarken und wahrhaftigen Rechtfertigung der real existierenden Landbewirtschaftung bedarf. Der Ruf nach einem lösungsorientierten agrarethischen Diskurs ist daher überfällig. Wenn die Aufgabe von Ethikern darin liegt, moralische Konflikte aufzuzeigen und sie einer belastbaren Lösung zuzuführen, dann bedarf es einer systematischen Reflexion der weltanschaulichen, moralischen und religiösen Grundlage der agrarwirtschaftlichen Praxis, der Agrarpolitik, der Agrarforschung und der alternativen Optionen, in der die Wahrhaftigkeit und Legitimation des Handelns zu überprüfen ist.

Die Agenda 21 beschreibt nicht nur ein Leitbild, sie stellt auch  ethisch orientierte Handlungsoptionen zur Verfügung. Entscheidungsträger sollen sich daran orientieren, ob nachfolgende Generationen noch Wahlmöglichkeiten und Lebenschancen haben. Das setzt ein vernünftiges, also ein auf der Vernunft basiertes Wirtschaften voraus, das nicht Selbstzweck ist, sondern Mittel im Hinblick auf unser „gutes Leben“ in der „Volks-Wirtschaft“ im erweiterten zivilisatorischen Sinne, nämlich im Rahmen eines „kultivierten Benehmens“.

Ein Schritt für eine praktische Agrarethik besteht darin, global gültige „vitalpolitische Mindest-Standards“ (Ulrich und Busch, 2012) im Bereich des Umweltschutzes und der Menschenrechte in der agrarwirtschaftlichen Produktion und des Handels zu etablieren. Das können nur starke integre Akteure auf dem Markt sein, sonst werden sie aufgrund des Kostennachteils für ihre „Integrität“ vom Markt bestraft, indem Konkurrenten Kostenvorteile nutzen. Damit der Moralische nicht der Dumme ist, bedarf es ferner fairer Spielregeln („institutionelle Rückenstützen“ (Ulrich, 2008) für integre Akteure, die mit den Ressourcen verantwortungsvoll, also kultiviert, umgehen und durch gesetzliche Maßnahmen flankierend geschützt werden.

Die globale Agrarwirtschaft braucht einen Paradigmenwechsel, weil sie nicht nachhaltig im Sinne des Brundtland-Reports wirtschaftet. Während derzeit fast ausschließlich betriebswirtschaftliche und unternehmensegozentrische Interessen im Mittelpunkt stehen, die noch nicht einmal eine ökonomische Grundlage haben, weil Gemeingüter über die Externalisierung der Kosten ausgebeutet werden, müssen zukünftig im Zentrum universell geltende, an der Nachhaltigkeit ausgerichtete Werte stehen.

„Institutionelle Rückenstützen“ als konkrete rechtliche Normen sollten einen Wertekanon abdecken, der nicht hintergehbar ist. Erst langsam beginnen die Verantwortlichen die Gefahr der bisherigen Fehlorientierung zu begreifen, aber der „süße Most der schnellen Rendite“ (Altner, 2012) verhindert global alle Neuorientierungen. Begriffen wird langsam in Agrarunternehmen und im Handel, dass ethisch orientiertes Verhalten dem Menschen und der Mitwelt gegenüber eine Rendite über die monetäre hinaus erbringt.

An diesem Punkt setzen Standardinitiativen der NGOs als solide Partner der Agrarunternehmen an. Sie führen die Unternehmen auf freiwilliger Basis und transparent an höhere Niveaus zum Schutz der Menschen und der Umwelt heran. Wichtige ethische Prinzipien werden dabei berührt wie: Transparenz in Forderung und Umsetzung, umfassender Diskurs der Standards im Vorfeld mit allen Beteiligten (Habermas, 1983), Beratung,  zunehmende ökonomische Nachhaltigkeit und damit Sicherung von Arbeitsplätzen, Vertrauensbildung in der Handelspartnerschaft auch durch ein Siegel für den Konsumenten, positive Zukunftsorientierung und Teilhabe an ethischer Konsumorientierung und nachhaltiger Entwicklung.

Der Weg der standardorientierten Zertifizierung wird nicht den „süßen Most der schnellen Rendite“ überwinden können. Er ist nicht systemverändernd im ökonomischen Sinne, ja vielleicht ist er sogar „weiße Salbe“ auf der derzeitigen marktradikalen Nutzenfixierung. Doch dieser Weg ist trotzdem richtig, weil Akteure den Weg gemeinsam beschreiten, weil Fehler und Grenzen der standardbasierten Zertifizierung erkannt werden und  weil dem  Ziel der Generationengerechtigkeit zumindest näher gekommen wird.

Hoch unmoralisch wäre es, wider bessere Erkenntnis und Möglichkeiten nicht zu handeln, weil z. B. das Ziel der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit nicht kurzfristig erreichbar ist. Trotzdem gilt grundsätzlich: Es wird zu keiner nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung kommen, solange diese nicht in einen übergeordneten gesellschaftlichen Kontext eingebettet wird – und dies zu leisten ist eine kulturelle und politische Gestaltungsaufgabe, in deren Zentrum die hoch ethische Frage steht: Wie gehen wir mit Lebendigem um?

Fazit

Die integrierte landwirtschaftliche Produktion gilt weltweit als anerkannt zielführender Weg zu einem höheren Umweltschutzniveau in der Agrarwirtschaft. Derzeit ist nicht erkennbar, dass dieser Weg in der agrarwirtschaftlichen Praxis – trotz diverser Absichtserklärungen –  erfolgreich beschritten wird.

NGOs, legitimiert durch die Agenda 21, greifen diesen Anspruch auf und formulieren Umwelt- und Menschenrechtsstandards, basierend auf ethischen Werten, die sie in Kooperation mit den Produzenten und dem Handel auf den Märkten einführen. Dieser Weg ist erfolgreich, um eine Agrarethik zu entwickeln, von der alle Akteure profitieren. Mitentscheidend ist die Glaubwürdigkeit der Akteure, die es auf der Grundlage der Wahrhaftigkeit ständig zu hinterfragen gilt.

Quellen

Literatur
Altner, Günter 2012: Landwirtschaft zwischen Eigennutz und Ehrfurcht. In: Meier, Uwe (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Gottwald, Franz-Theo, Ingensiep, Hans Werner und Meinhard, Marc (Hrsg.) 2010: Food Ethics. Springer , New York, Dordrecht, Heidelberg, London, p. 219
Habermas, Jürgen 1983: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Suhrkamp, Frankfurt/M., 53-125, 113
Heißenhuber, Alois und Leitner, Heidrun 2012: Nachhaltige Landnutzung. In: Meier, Uwe (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Meier, Uwe (Hrsg) 2012: Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Ulrich, Peter und Busch, Thorsten 2012: Nachhaltige Entwicklung kritisch hinterfragt: Drei Orte der Verantwortung einer integrativ verstandenen Agrarethik. In Meier, Uwe (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Ulrich, Peter 2008: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. 4. Auflage, Haupt, Bern, Stuttgart, Wien, S. 558
WCED, 1987: Our Common Future. Report of the World Commission on Environment and Development. University Press, Oxford, New York, p. 400

Diese Ausführungen von Uwe Meier kommen aus dem Buch „Essen & Moral – Beiträge zur Ethik der Ernährung“ von den Herausgebern: Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen, Schweisfurth-Stiftung München. Metropolis Frankfurt 59-7


[1]resp. NGO zu engl. non-governmental organisation

[2]Das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung definierte die Brundtland-Kommission (in ihrem Bericht auf zwei Arten:
1. „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können (Generationengerechtigkeit)“.
2. „Im wesentlichen ist dauerhafte Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.“
Diese Definition wird seltener zitiert. Sie beinhaltet die Forderung einer ganzheitlichen Verhaltensänderung, die deshalb politisch weniger konsensuale Anerkennung findet.
Die Veröffentlichung des Brundtland-Berichts gilt als der Beginn des weltweiten Diskurses über Nachhaltigkeit bzw. Nachhaltige Entwicklung. Auf seine Veröffentlichung folgte 1989 die Einberufung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (als Rio-Konferenz oder Erdgipfel bekannt), die im Jahr 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Der Brundtland-Bericht sollte in internationales Handeln umgesetzt werden, hierfür wurde die Agenda 21 beschlossen. (Wikipedia, 26.10.2012)

[3]World Commission on Environment and Development (WCED, 1987)

[4]Verordnung über Anforderungen an eine nachhaltige Herstellung von Biokraftstoffen, (Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung = Biokraft-NachV) vom  30. September 2009

[5] Verordnung über Anforderungen an eine nachhaltige Herstellung von flüssiger Biomasse zur Stromerzeugung (Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung = BioSt-NachV) vom  30. September 2009

[6] www.sanstandards.org (06.10.2012)

[7]Das Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung – Marketing für Agrarprodukte und Lebensmittel der Universität Göttingen befasst sich wissenschaftlich mit der Qualität von Zertifizierungssystemen.

Der Verlust an Regierungshandeln und damit von politischen Steuerungsmöglichkeiten der Staaten, ist eine der Auswirkungen der Globalisierung. Eng verbunden mit dieser schwindenden Entwicklung des Einflusses der Staaten ist der wachsende Einfluss der zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie der von Nichtregierungsorganisationen (NROen). NROen haben vielfach Substitionsfunktionen für nicht mehr geleistete staatliche Daseinsvorsorge übernommen. Es organisieren sich zivilgesellschaftliche Akteure zunehmend grenzüberschreitend und nehmen Einfluss auf die globale Politikgestaltung und das Wirtschaftsgeschehen. Insofern übernehmen NROen inzwischen „außerparlamentarische“ ordnungspolitische Funktionen. Sie definieren inzwischen, was Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda, wie „Gute Landwirtschaftliche Praxis“, „Nachhaltige Forstwirtschaft“ und nachhaltige soziale Arbeitsbedingungen sind. Und sie versuchen immer erfolgreicher, die vernachlässigten staatlichen Strukturen der Unternehmenskontrolle über private und standardgestützte Unternehmenskontrollen (Audit) und Zertifizierungen zu kompensieren.

Die Entwicklung von Umwelt- und Sozialstandards in der internationalen Agrarwirtschaft und deren Umsetzung in verbindliches, praktisches Handeln mit Hilfe von Standardinitiativen bedürfen umfassender und oft schwieriger Kommunikationsprozesse zwischen allen Beteiligten. Doch hat es sich gezeigt, dass dieser Weg im Rahmen der gegebenen marktwirtschaftlichen Bedingungen erfolgreich beschritten werden kann.

Standardorganisationen nutzen als Grundlage für die Bewertung von Umwelt- und Sozialleistungen von Unternehmen Prinzipien, Standards und Kriterien.  Wodurch unterscheiden die sich?

Prinzipien beschreiben allgemeine Regeln, die zu den gesetzten Zielen führen sollen. Sie bilden ähnlich einem Grundsatz, eine in sich gegliederte Leitlinie, die möglichst weitgehend verwirklicht werden soll. Ein Beispiel ist das Prinzip, nach dem die „Gute Landwirtschaftliche Praxis“ (GLP) einzuhalten ist.

Kriterien sind konkrete Bewertungsmerkmale. Sie werden in den Standardinitiativen genutzt, um Anforderungen an einen Produktionsprozess oder ein Produkt festzulegen. Diese Anforderungen können sich auf die Qualität eines Produktes beziehen, wie die Rückstandsfreiheit von Pflanzenschutzmitteln für Ernteprodukte oder auch auf die Produktion selbst, wie z. B. Maßnahmen zur Reduzierung der Bodenerosion oder die Forderung nach Löhnen, die den Lebensunterhalt sichern.

In der internationalen Praxis setzen sich zunehmend Kriterien unterschiedlicher Strenge innerhalb eines Systems durch. So wird oft unterschieden zwischen Kriterien, die von dem Unternehmen in vollem Umfang immer eingehalten werden müssen und Kriterien, die in einem festgelegten Umfang erfüllt sein müssen. Mit dieser Vorgehensweise sollen dem Produzenten einerseits deutlich die Grenzen aufgezeigt werden, die er nicht überschreiten darf und andererseits sollen dem Produzenten Ziele in einem Aktionsrahmen gegeben werden, die es noch zu erreichen gilt.

Der Standard wird zunehmend als übergeordneter Begriff betrachtet, unter dem sich die Kriterien einordnen lassen. Demnach wäre ein Standard im Sinne von Standardinitiativen beispielsweise das Gebot der Einführung des Integrierten Pflanzenbaus und die Kriterien wären die Maßnahmen, die zu dem Ziel führen sollen.

Quelle

Entnommen aus: MEIER, UWE, 2012: Standards und Kriterien als Beitrag für eine Agrarethik. S.229-253. In: MEIER, UWE (Hg.) Agrarethik- Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, 347

Ein Unternehmen, ein Bauernhof oder eine Kooperative können sich freiwillig untersuchen lassen, ob sie Umwelt- und Menschenrechtsstandards einhalten. Eine Untersuchung erfolgt auf der Grundlage von Standards oder Kriterien durch spezielle Zertifizierungsunternehmen. Was Standards oder Kriterien sind und wie sie entwickelt werden, lesen Sie unter den Stichworten „Standards und Kriterien“.

Es stellen sich die Fragen, warum Unternehmen untersucht werden möchten und warum sie ein Zertifikat haben wollen. Der wichtigste Grund: Weil der Kunde oder Handelspartner es verlangt. Der will sicher gehen, dass die Versprechungen stimmen, die mit dem Produkt verbunden werden. Oft wird ein Zusatznutzen (z. B. BIO und/oder FAIR) versprochen, der am Produkt jedoch nicht erkennbar ist. Es geht also um Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit, von unabhängiger Seite garantiert.

Ein weiterer Grund zur freiwilligen Überprüfung der Produktion ist oft ihre Marktferne. Waren kommen aus vielen Ländern. Kein Händler kann sie sich weltweit zusammensuchen und vor Ort deren Qualität oder Anbaubedingungen überprüfen. Handler vertrauen deshalb auf das Zertifikat, das Garantien enthält.

Der Untersuchungsvorgang wird Audit genannt und das abschließende Zeugnis ist ein Zertifikat. Der Gesamtvorgang heißt Zertifizierung und wird von staatlich genehmigten Zertifizierungsunternehmen durchgeführt. So soll garantiert werden, dass z.B. die Bio-Standards bei der Produktion und der faire Handel auch tatsächlich eingehalten werden. Die Standardsetzung und die Überprüfung der Einhaltung der Standards in der Praxis sind also die entscheidenden Kontrollinstrumente für eine umweltorientierte und faire Produktion. Das verliehene Siegel vermittelt dem Kunden nach erfolgreicher Prüfung, dass die Produktion den Versprechungen (z.B. umweltfreundlich und sozialverträglich) entspricht.

Das Verhalten des landwirtschaftlichen Unternehmens und der Zertifizierungsunternehmen sind also die Schlüssel für das Vertrauen in das Produkt. Beide müssen glaubwürdig handeln, um sowohl einen höheren Preis zu rechtfertigen als auch gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Und was ist, wenn die Produktionsunternehmen nicht glaubwürdig handeln? Dann werden sie ermahnt und können nach Gremienbeschluss aus dem System ausgeschlossen werden.

Das Problem: Je mehr landwirtschaftliche Flächen weltweit umwelt- und sozialzertifiziert werden und je unterschiedlicher der Produktpreis zwischen zertifizierten Produkten und nicht zertifizierten ist, umso größer wird die Gefahr des Betrugs. Die Kontrolle ist zum einen schwierig und bedarf hoher Fachkenntnisse, und zum anderen gibt es zwischen Zertifizierungsunternehmen und dem zu untersuchenden landwirtschaftlichen Betrieb oder der Kooperative wichtige Gemeinsamkeiten: Nämlich die, dass das Audit (Betriebsuntersuchung) möglichst preiswert sein soll, nicht viel Zeit benötigt und dass es erfolgreich sein soll, also ein Siegel erteilt wird. Diese gemeinsamen Interessen machen eine Zertifizierung hoch betrugsanfällig.

Hinzu kommt, dass die Zertifizierungsorganisationen untereinander im Wettbewerb stehen. Dieser Wettbewerb findet auf ökonomischer Grundlage statt und nicht, ob die Ziele (Umwelt und Soziales) erreicht wurden. Das scheint selbstverständlich zu sein. Ist es aber nicht. Es ist verständlich, aber falsch, wenn der Wettbewerb der Zertifizierungsorganisationen auf ökonomischer Grundlage stattfindet, weil die Ziele der Zertifizierung und die Produktauslobung, nämlich menschenwürdige und umweltfreundliche Produktion, nicht oder nur ungenügend erfasst werden.

Die Kostenfrage wird gestellt, z. B. welches Label oder welche Zertifizierungsorganisation kostengünstiger ist, d. h. oft auch schneller, also nicht so gründlich. Das spart einmal direkte Untersuchungskosten und es können kostenrelevante  Probleme übersehen werden.  Die Gegensätzlichkeit wird deutlich: Obwohl die Qualität (Umwelt und Soziales) beworben wird und diese auch die Ziele des Vorhabens sind, werden sie nicht bemessen. Bemessen wird hingegen der Umsatz und zertifizierte Flächen, denen ganz andere Maßstäbe zugrunde liegen, nämlich die tradierten monetären Einheiten. Dieser Widerspruch ist nicht auflösbar und das Grundproblem der Glaubwürdigkeitsproblematik.

Der Wettbewerb findet also nicht unter öko-sozialen Bedingungen statt, also welches System die glaubwürdigsten und sinnvollsten Kriterien hat, die zu mehr ökologischer und sozialer Verantwortung führen. Das führt zu einer Entwicklung, die als „Race to the bottom“ bezeichnet wird – also ein Wettlauf  hin zu schwächeren Sozial- und Umweltstandards. Zu lösen ist das Problem nur über ein noch zu entwickelndes messbares Glaubwürdigkeits-System. Daran wird gearbeitet.

Wie oben bereits angedeutet, kann sich ein weiteres Problem aus der allzu engen Kooperation der Zertifizierungsorganisation mit dem Unternehmen ergeben, das untersucht werden soll. Bei Unternehmensprüfungen kann sich zwischen der Zertifizierungsorganisation oder den  Auditoren und dem zu zertifizierenden Unternehmen ein Abhängigkeitsverhältnis entwickeln, von dem beide Seiten profitieren. Das Unternehmen hat das Ziel, die Unternehmensprüfung erfolgreich zu bestehen, und die Zertifizierungsorganisation möchte zwar ein ordnungsgemäßes Audit durchführen, es will verständlicherweise jedoch auch den Folgeauftrag haben. Der Wunsch nach dem Folgeauftrag ist sowohl aus wirtschaftlichen Gründen verständlich als auch dadurch, dass mögliche Unregelmäßigkeiten im Auditierungsprozess leichter verdeckt werden können. Hinzu kommt, dass zu viele negative Ergebnisse bei Audits das Geschäft des Zertifizierungsunternehmens negativ belasten. Diesem risikobehafteten Thema muss verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil Glaubwürdigkeit für die Zertifizierung existenziell ist.

Diese Probleme über die Qualität der Zertifizierung oder die Glaubwürdigkeit sind bekannt und wurden bisher nur schwach wissenschaftlich bearbeitet. Das ist erstaunlich, stützen sich doch inzwischen auch rechtliche Normen auf Agrarstandards und Zertifizierung, anscheinend in der nicht gerechtfertigten Annahme, dass die „schon funktionieren werden“.

Es besteht durchaus die Möglichkeit, den oben genannten Problemen entgegen zu wirken. Doch die sind kostenrelevant. So könnte vorgeschrieben werden, dass ein Wechsel der Zertifizierungsorganisationen zu erfolgen hat. Niemals sollten Auditoren allein in einen Betrieb gehen, und die Auditorengruppe sollte regelmäßig neu zusammengestellt werden.

Unsere Braunschweig Schokolade und die Glaubwürdigkeit

Wir vom Verein „Fair in Braunschweig“ kennen die Probleme, darum bieten wir auch unsere Hilfe an. Es nützt nichts, wenn wir auf den nächsten Lebensmittelskandal warten und immer einen Schudigen suchen. Wir müssen handeln.

Obwohl an anderer Stelle näher beschrieben, wird hier kurz darauf eingegangen. Garantieren kann unser Verein „Fair in Braunschweig“ eine Braunschweig Schokolade mit einer belastbar hohen Sorgfalt bei der Auswahl der Handelspartner. Deren Geschäftspolitik und -philosophie muss klar und überzeugend sein und sich im langfristigen Agieren widerspiegeln. Wir wollen Handelspartner, die auch im Geschäftsleben einen hohen umweltorientierten und sozialen Ethos im Unternehmen leben.  Darum arbeiten wir mit der von Kirchen Brot für die Welt und Misereor gestützten Fair-Handelsorganisation GEPA zusammen und mit der landwirtschaftlichen Bio-Organisation „Naturland“. Wir gehen davon aus, dass die Mitarbeiter die tiefe und begründbare Überzeugung haben, dass sie für Nachhaltigkeit arbeiten wollen.

Wir wissen, dass Vertrauen erworben werden muss. Das dauert lange. Darum beginnen wir bei „Fair in Braunschweig“-Schokolade auch langsam mit ständiger Rückkontrolle. Unsere Geschäftsphilosophie ist Langsamkeit in überschaubaren Produktions- und Handelsstrukturen. Unsere Produkte sind nicht nur unsere angebotenen Waren, unser wichtigstes Produkt soll die Glaubwürdigkeit sein. Ein hoher jedoch eigentlich ein selbstverständlicher Anspruch! Wir werden sehen, ob er auch erfüllbar ist. Darum zunächst nur Vollmilch-Schokolade und erst später weitere Schokoladen mit anderen Geschmacksrichtungen.

Wir im Verein wollen transparent sein, denn Transparenz ist die Schwester der Glaubwürdigkeit. Unser Verein hat keine Geheimnisse und mögliche gefundene Fehler werden wir benennen, wenn sie gravierend sind oder nicht rasch behoben werden können.

Der Beitrag macht am Beispiel von Roh-Kakao deutlich, dass höhere Preise für Rohstoffe bei hoher Produktqualität und öko-sozialer Produktionsweise gerechtfertigt sind und einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung und Gerechtigkeit leisten können. Internationale Qualitätssiegel auf  agrarethischer Grundlage sind eingeführt und können helfen, die öko-soziale Situation bei den Produzenten deutlich zu verbessern. Voraussetzung dafür ist jedoch deren Glaubwürdigkeit.  Diese ist jedoch nicht unbedingt gegeben und bedarf einer ständigen Überprüfung sowie anwendungsorientierter Forschung. Die Anforderungen an Qualitätssiegel werden diskutiert.
 
Jorge Pizano, der Kakaobauer
Es war wie immer – heiß und dampfend feucht. Ich lief zwischen den tiefen Fahrspurrillen auf einer Straße. Rechts von mir ein rostiger Stacheldrahtzaun und dahinter die Kakao-Kooperative Rancho Grande im Norden Nicaraguas. Gelegentlich säumten mit Wellblech bedeckte Hütten den Weg. Vor ihnen tummelten sich dreckige Kinder, Hühner und Hündinnen mit langen Zitzen und knuffigen Welpen.  Am Himmel vor mir steht eine bedrohlich dunkle Wand. Kurze Zeit später entladen sich die schweren Wolken, alle Schleusen sind offen. Im Nu ist die Straße ein Fluss – „aguacero“, denke ich und frage rasch einen Mann am Gartenzaun, ob ich mich unterstellen dürfe. Ich durfte und schlüpfte unter das löchrige Vordach einer Wellblechhütte. Der Wolkenbruch war so heftig, dass der Lärm auf dem Dach meine Worte verschluckte, und so wartete ich mit dem Mann und seiner Frau, den Kindern, Hühnern, einem Schwein und einer ausgemergelten verflohten Hündin mit ihren Welpen, bis der Wasserfall zum Regen wurde.
Wir stellten uns vor. Die Kinder bekamen Süßigkeiten, die ich Tage zuvor vom Hotelkopfkissen mitgenommen hatte. Ich fragte in meinem etwas unbeholfenen Spanisch den Mann, ob er mir in dieser Gegend Bewohner nennen könnte, die Wissen über Kakaoproduktion haben. Ja, sagte er trocken, ich!
Aus meinen Aufzeichnungen: Name: Jorge Pizano, fünf Kinder, die zwei Ältesten gehen zur Schule.Eigentum drei Hektar. Seit zwei Jahren Anbau von Kakao für den Export im Agro-Forst-System. Das heißt: Mischkultur mit Kakao, Banane, Manjok, Süßkartoffel, Bohnen, Avocado und weiteren Bäumen. Jorge verkauft Feldfrüchte also auch auf den heimischen Märkten und er nutzt die Pflanzen zudem für den eigenen Kochtopf. Respekt, dachte ich mir, der hat`s verstanden. Denn sein Anbausystem stabilisiert die Familienökonomie.
Hinter dem Haus hatte er hoch oben auf einem Mast ein Sonnenpaneel. Auf dem Dach sei das zu gefährlich, sagt Jorge, wegen der Diebe. Die ganze Familie ist stolz auf die Fotovoltaikanlage, die von der Kooperative komme, denn nun könne er zu Hause sein Handy aufladen und die Kinder könnten auch noch am Abend ihre Hausaufgaben machen.
Woher diese Fortschritte, wollte ich wissen. Oh, meinte er, das sei noch nicht alles. Man merke, dass die Freunde aus dem reichen Costa Rica in das Dorf zurückkämen, denn nun gebe es mehr bezahlte Arbeit im Dorf. „Und unsere schönen Frauen bleiben auch hier.“ schmunzelte Jorge.
Woher dieser Wandel, wollte ich wissen. Wichtig sei, so Jorge, dass die  Kooperative für den Rohkakao mehr an ihn bezahle, und zwar immer und zuverlässig. Die Kooperative verkaufe den Kakao an ein deutsches Schokoladen-Unternehmen, die allerdings eine sehr hohe Qualität von ihnen verlangten. Seine Frau sei in den Schulungskursen gewesen, bei denen sie lernte, wie hohe Qualität produziert werde. Das sei anstrengend und sehr schwierig, auch wegen des Risikos. Das aber lohne sich alles, weil sie alle besser lebten und ihre Kinder mehr lernten. Schwierig sei das Trocknen der Kakaobohnen, dafür sei es zu feucht bei ihnen, meinte Jorge. Das machten sie dann in der Provinzhauptstadt Matagalpa. Dort sei es trockener und sie kämen auf die geforderten 7 % Produktfeuchtigkeit.
Beeindruckt verließ ich Jorge und seine Familie und fragte mich, warum die großen Welt-Kakaoplayer wie Cargill, Mars und Mondelez (Milka) nicht mehr Geld bezahlen, damit es allen Kakaopflanzern besser geht und alle Kinder zur Schule gehen können. Es scheint ja möglich zu sein.
Nein, dachte ich mir, es ist nicht der anonyme Weltmarkt für Roh-Kakao. Auch Märkte werden von Menschen gemacht; allerdings weit entfernt von Humanität und Gerechtigkeit. Diese Werte scheinen nicht in das Wertesystem der Marktradikalität zu passen.
 
Ethik, Zertifizierung und Qualitätssiegel
Arbeit im Kakao ist Knochenarbeit. Die geforderte höchste Rohkakao-Qualität herzustellen ist schwierig und risikoreich. Optimaler Erntezeitpunkt, Temperatur und Zeit bei der Fermentation, Reinigung und Trocknung des Rohkakaos sind Herausforderungen, die wesentlich über die Qualität unserer Schokolade entscheiden. Das alles und das schwere Leben der Kakaobauern machte ich mir bewusst, als ich in einem ausgemusterten US-amerikanischen Schülerbus über die holprigen Straßen nach Granada fuhr, einer Kleinstadt am Nicaraguasee mit reichem kolonialen Erbe.
Ich freute mich auf das Hotel, in dem ich mich erholen wollte. Saubere und trockene Bettwäsche,  keine Flöhe und Wanzen, eine saubere Toilette und Dusche waren meine bescheidenen Vorstellungen, die sich fast erfüllten, denn Flöhe gibt es anscheinend überall.
In der Hängematte im Patio schaukelnd ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich dachte an die Einleitung meines Buches, das ich herausgeben wollte und das noch als Gerippe zu Hause in Braunschweig lag. Es sollte „Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft“[1] heißen.
Ein wichtiger Grund, dass ich dieses Buch herausgebe, ist, dass alte und immer wieder als richtig erkannte agrarwirtschaftliche Grundlagen kaum noch Beachtung finden. Werte wie Ehrfurcht vor dem Leben werden ökonomischen Zielen untergeordnet. Für ein Innehalten, für ein gemeinsames interdisziplinäres Überlegen nach dem besten Weg unter Berücksichtigung von moralischen, religiösen oder kulturellen Werten außerhalb sogenannter ökonomischer Sachzwänge ist keine Zeit mehr vorhanden. So es denn überhaupt gewollt ist, denn der Weltmarkt sei schließlich unerbittlich. Die Gedanken an das Buch führten mich ins Internet des Hotels. Ich sah auf den Seiten der großen Agrar-Handelskonzerne nach. Was findet man da nicht alles an Selbstverpflichtungen: Code of Conduct, Social und Ecological Management Systems, das Corporate Social Responsibility (CSR) und die Öko-ISO-Normenreihe 14000 oder die nicht zertifizierungsfähige soziale „Leitlinie“ ISO 26000. Ohne Zweifel sind das doch alles Hinweise für eine Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch die multinationalen Handels- oder Agrarkonzerne. Oder etwa nicht? Sicher, sagte vor vielen Jahren mal ein hoher Manager des Bananenkonzerns  „Chiquita“ zu mir, die Systeme wirken, aber die bewirken nicht das, was sie versprechen, nämlich eine umweltfreundliche und menschenwürdige Bananenproduktion. Darum produzieren wir nach vorgegebenen Standards des „Sustainable Agricultural Network“ und lassen deren Einhaltung durch ein Audit von unabhängiger Seite bestätigen und zertifizieren. Das Siegel (Label), der grüne Frosch auf weißem Grund der „Rainforest Alliance“, gibt unseren Handelspartnern und den Verbrauchern in Europa Vertrauen, dass das Produkt nachprüfbar sozial- und umweltverträglich ist. Die Standards, die eingehalten werden müssen, stehen im Internet.
Inzwischen gibt es zahlreiche  „Labels“ für agrarwirtschaftliche Produkte. Sie werden von Standardinitiativen an Unternehmen vergeben, wenn diese zuvor festgelegte nachprüfbare Sozial- und Umweltstandards in der Produktion einhalten. Das wird von Zertifizierungsorganisationen vor Ort geprüft. Den Einkäufern der Lebensmittelmärkte und Endverbrauchern sind die Labels von „Transfair“ und das EU-Biolabel bekannt. Weniger bekannt in Deutschland  sind die Labels von „Rainforest Alliance“, MSC oder UTZ. Hinzu kommen die Öko- und Sozial-Eigenmarken der Lebensmittelkonzerne. Deutschland – ich sitze im ICE und fahre von Braunschweig nach Stuttgart. Mein Laptop ist aufgeschlagen und ich verfasse diesen Text. Ein kurzgeschorener Mann, neben mir sitzend, sieht auf meinen Text, entschuldigt sich und spricht mich auf meine Ausführungen an. Er stellt sich als Mitarbeiter einer Handelskette vor.
Glauben Sie an die Labels, fragt er mich. Ja, das tue ich, und bin über meine klare Aussage selber erstaunt. Denn im Grunde hege ich tiefe Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Allein die Erfolgsmaßstäbe der Standardorganisationen sind aus meiner Sicht eines Insiders falsch. Es kann nicht um die Größe der weltweit zertifizierten Fläche gehen (derzeit etwa 10 Mio. Hektar), sondern in erster Linie um Glaubwürdigkeit. Aber wie misst man die?
Mein kaufmännischer Begleiter meint, dass die meisten Staaten gute Umwelt- und Sozialgesetze haben, doch die hielten die Unternehmen kaum ein und auch staatliche Kontrollen gebe es keine. Man wolle die Wirtschaft schonen, über jeden Investor sei man froh. Sie wissen schon, Arbeitsplätze und so. Ja, entgegne ich bösartig, wie in Niedersachsen in der Fleischproduktion, in der gibt es ja auch Labels und Selbstverpflichtungen ohne Wirkung. Kein Wunder, sagt eine uns gegenüber sitzende Spiegelleserin: Es gehe schließlich immer und überall um`s Geld, da müsse alles andere zurückstehen. Sowohl die Werte, die unsere Zivilisation ausmachen, als auch die Einhaltung der Umwelt- und Sozialstandards. Ich klappte das Laptop zu und begann zu dozieren: In der Landwirtschaft wollen wir seit Jahrzehnten die umweltorientierte “Integrierte Produktion“. Diese ist mit dem „Integrierten Pflanzenschutz“ in normativen Regelwerken in vielen Staaten als Ziel verankert, auch in der FAO[2]. Doch umgesetzt wurde bisher fast nichts – auch nicht in der EU. Die politischen Konzepte sind gescheitert. Kulturmaßnahmen, wie die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, orientieren sich nicht an hehren Programmen, sondern am Ertragsverlustrisiko und erwarteten Produktpreis aus. NGOs in der Agrarwirtschaft, so ich weiter, die, wie der Handel, global vernetzt sind, leisten heute gemeinsam mit den Produzenten und dem Handel einen wichtigen Beitrag. Sie definieren eine exakte Anforderung und begründen und diskutieren diese Standards weltweit, bevor sie in die Praxis übernommen werden.

Sie können und sollen staatliche normative Regelungen nicht ersetzen; sie können jedoch helfen, Grenzen auf der Grundlage von Standards und Indikatoren zu definieren. Sie können Defizite lokalisieren und über Verhaltensregeln einzuhaltende und kontrollierbare Vorgaben machen. Darum brauchen wir Labels. Wir alle, die mit Labels zu tun haben, müssen dafür sorgen, dass sie glaubwürdiger werden, und ihren Ansprüchen nahe kommen. Das ist nur gemeinsam zu schaffen, und  – wie viele Beispiele zeigen – auch mit hoher Glaubwürdigkeit.
Nun waren wir in Stuttgart und ich betrat erstmalig diesen skandalumwitterten Bahnhof, dessen Neubau es ja auch an  Glaubwürdigkeit mangelt.
 
Glaubwürdigkeitsdiskurs
Standardinitiativen und die mit ihnen kooperierenden Zertifizierungsorganisationen vermitteln den Anspruch hoher Integrität und Glaubwürdigkeit. Im Grunde leben die Initiativen von dem Vertrauensvorschuss, den der Kunde gibt. Dieser Anspruch ist richtig, doch öffnet sich eine Frage. Nämlich die, ob der Anspruch erfüllt wird.  Ist das Zertifizierungsunternehmen glaubwürdig in seinem Handeln? Die Glaubwürdigkeit sollte schon deshalb hinterfragt werden, weil sie das einzig wertvolle Kapital der Standardorganisationen sind und die Organisationen untereinander im Wettbewerb stehen. Es geht um viel Geld. Auch dadurch bedarf der ganze Zertifizierungskomplex einer kritischen wissenschaftlichen Begleitung.

Der Wettbewerb führt zu einer Entwicklung, die bekannt ist und als „Race to the bottom“ bezeichnet wird – also einem Wettlauf  hin zu schwächeren Standards und geringeren Kosten,  weil die Standardsysteme mit geringeren Standardanforderungen und Zertifizierungskosten Wettbewerbsvorteile haben. Den Erfolgsmaßstab „Größe der zertifizierten Fläche“ zur Bewertung des Erfolgs eines Zertifizierungssystems heranzuziehen, so wie es heute geschieht, ist daher falsch! Nur die Bewertung der Glaubwürdigkeit kann ein gültiger Maßstab sein. Diesem risikobehafteten Thema muss verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil Glaubwürdigkeit für die Zertifizierung existenziell ist,  zumal wenn Zertifizierungen zukünftig verstärkt politisch gewollt sind. Die gröbsten Problemfelder könnten durch die Einrichtung eines Fonds ausgeräumt werden, aus dem die Zertifizierungsorganisationen bezahlt werden, so dass zwischen diesen und den zertifizierten Unternehmen  keine offiziellen Gelder fließen. Sinnvoll wären sicher auch Gebührenkataloge. Besonders wichtig ist der Wechsel von Zertifizierungsorganisationen.

Ein Schritt hin zu einer praktischen Agrarethik besteht darin, global gültige „vitalpolitische Mindest-Standards“ (Ulrich und Busch, 2012) im Bereich des Umweltschutzes und der Menschenrechte in der agrarwirtschaftlichen Produktion und dem Handel zu etablieren. Das können nur starke integre Akteure auf dem Markt sein, sonst werden sie aufgrund des Kostennachteils für ihre „Integrität“ vom Markt bestraft, indem Konkurrenten Kostenvorteile nutzen. Damit der Moralische nicht der Dumme ist, bedarf es ferner fairer Spielregeln,  sog. „institutioneller Rückenstützen“ [3] für integere Akteure, die mit den Ressourcen verantwortungsvoll – also kultiviert – umgehen und durch gesetzliche Maßnahmen flankierend geschützt werden.

An diesem Punkt setzen Standardinitiativen der NGOs als Partner der Unternehmen an. Sie führen die Unternehmen auf freiwilliger Basis und transparent an höhere Niveaus zum Schutz der Menschen und der Umwelt heran. NGOs sollten auf die Transparenz achten, sowohl der eigenen als auch auf die der Unternehmen, die in der Produktionskette von Bedeutung sind. Transparenz ist der Schlüssel zur Glaubwürdigkeit, die bei einer Zertifizierung als erstes zu hinterfragen ist. Es reicht nicht, dass auch der Produkthersteller (z.B. Schokolade) ein Biozertifikat hat. Auch er muss nachweisen, dass er auf einem hohen Umweltschutz- und Sozialniveau produziert.
Der Weg der standardorientierten Zertifizierung wird nicht den „süßen Most der schnellen Rendite“ überwinden können. Er ist auch nicht systemverändernd, ja vielleicht ist er sogar „weiße Salbe“ auf der derzeitigen marktradikalen Renditefixierung. Aber der Weg verspicht mehr Humanität und Umweltvorsorge in der landwirtschaftlichen Produktion – hin zu einer Agrarethik.
Diese Ausführungen von Uwe Meier sind entnommen aus dem Buch „Vielfalt statt Einfalt“. (ISBN 978-3-7357-5574-2). Herausgeber: Georg Sedlmaier, 2014.  153-161

Quellen

[1] Meier Uwe (Hrsg) 2012: Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
[2]Food and  Agriculture Organization
[3] Ulrich, Peter und Thorsten Busch 2012: Nachhaltige Entwicklung kritisch hinterfragt: Drei Orte der Verantwortung einer integrativ verstandenen Agrarethik. In Uwe Meier (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347

Das Siegel (Label) „Fair in Braunschweig“ enthält die zwei Qualitätsmerkmale „Bio“ und „Fair“. Das heißt: Alle Lebensmittel mit dem fairen Siegel aus Braunschweig werden biologisch-organisch hergestellt und fair gehandelt. Dafür garantiert „Fair in Braunschweig“. Lesen Sie dazu die Beiträge zur Glaubwürdigkeit  und zu den Produkten.

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Täglich treffen wir beim Einkaufen Entscheidungen auf Grundlage von Geschmack, Qualität und Preis. Aber wussten Sie, dass Sie mit Ihrer Wahl auch etwas verändern können? Produkte aus dem fairen Handel können die Arbeits- und Lebensbedingungen von Familien in den Anbauländern helfen zu verbessern. Wenn Sie sich über den fairen Handel umfassend informieren möchten, dann klicken Sie hier: „Mehr Gerechtigkeit im weltweiten Handel“  unter http://www.fairtrade.de

Alle Lebensmittel, die unter dem Siegel  von „Fair in Braunschweig“ verkauft werden, kommen aus dem biologisch-organischen Anbau  und sind in der Regel mit einem Siegel (z.B. Naturland, Europäische Union) gekennzeichnet. Das GEPA-Siegel garantiert für den fairen Handel.

„Kaum ein anderes freiwilliges Gütesiegel-System hat über die letzten Jahre einen derartigen Boom erlebt wie der Faire Handel – Fairer Handel ist in aller Munde, ist salonfähig geworden, auch an höchsten Stellen in den Regierungen vieler Länder. Aber wie passen Agrarethik und der Faire Handel zusammen? Was sind die wesentlichen ethischen Aspekte des Fairen Handels? Was sind die wesentlichen Elemente einer nachhaltigen Agrarethik weltweit? Und wie lässt sich ermessen, ob und wenn ja in welchem Maße der Faire Handel als ein positives Beispiel für realisierte Agrarethik gelten kann? Dieser Fragestellung geht der nachfolgende Beitrag nach.“

Quellen

MEIER, UWE: Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, 347
Weiterführende Informationen:
OLAF PAULSEN, 2012: Der Faire Handel und Agrar-Ethik – auch friedenspolitisch ein wichtiger Schritt (313-326).
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